Der medizinische Fortschritt der letzten 50 Jahre ist zweifellos enorm. Ein handfester Beweis: Unsere Lebenserwartung. Während ein Neugeborenes in den 50ern in Deutschland eine durchschnittliche Lebensdauer von 65 Jahren zu erwarten hatte, sind wir nun bereits bei 80 bis 81 Jahren.
Gleichzeitig spielt sich eine paradoxe Entwicklung ab: In einem Zwischenbericht des Programms “Gesunde Menschen 2010” des amerikanischen Bundesgesundheitsministeriums wurde die Lebenserwartung der Vorkriegsgeneration mit der der Baby-Boomer-Generation verglichen. Während die Lebenserwartung erwarteterweise stieg (von 76,8 auf 77,2 Jahre), sank eine andere Zahl: nämlich die der durchschnittlichen krankheitsfreien Jahre (von 48,7 auf 47,5).
Leben wir also immer länger, werden dafür aber immer kränker? Dies wäre sicherlich die eine Interpretation. Die andere Interpretation: Es werden öfter Krankheiten diagnostiziert als früher. Dem Thema Überdiagnose haben sich Dr. H. Gilbert Welch, Dr. Lisa M. Schwartz und Dr. Steven Woloshin in ihrem neuen Buch “Die Diagnosefalle” ausgiebig gewidmet.
Leichte Anomalien führen zu Überbehandlungen
Dabei wird beispielsweise der Trend kritisiert, bereits leichte Anomalien zu bekämpfen, bei denen noch nicht einmal sicher ist, ob sie gesundheitlich gefährlich sind. Bei diesen leichten Symptomen sind Medikamente nämlich nicht nur oft nicht notwendig, sie wirken auch weniger stark. So verhindern Medikamente bei schwer erhöhtem Bluthochdruck in 72% der Fällen schwere Komplikationen, bei sehr leicht erhöhtem Blutdruck ist der Wirkungsgrad aber nur noch 6%. Das heißt, in 94% aller Fälle würde so ein Medikament umsonst eingenommen werden.
Das wäre kein Problem, wenn Medikamente keine Nebenwirkungen hätten. Rechnet man aber diese mit ein, sieht man das Problem glasklar: Wer unnötigerweise Medikamente nimmt, erhöht damit die Chance, krank zu werden. Überdiagnosen sind damit nicht nur Zeit- und Ressourcenfresser, sie können uns auch kränker machen.
Zahlenspiele
Wann eine Krankheit diagnostiziert wird, ist oft von Zahlenwerten abhängig. Hier weisen die Autoren darauf hin, dass diese Zahlen oft relativ willkürlich sind. Beispiel Diabetes: Bis 1997 galt nur jemand, der einen Nüchternblutzucker von über 140 hatte als Diabetiker. Im Jahr 1997 wurde die Schwelle allerdings auf 126 heruntergestuft. So gelten heute mehr Leute als Diabetiker, auch wenn diese vielleicht nicht viel von ihrer “Krankheit” bemerken. Generell sind Zahlenwerte wie diese mit Vorsicht zu genießen: Jemand mit einem Nüchternblutzucker von 126 ist kein Diabetiker, jemand mit einem von 127 aber schon? Das lädt zur Überdiagnose ein.
Viele sichtbare Anomalien
Nicht nur unsere Heilmethoden haben sich in den letzten Jahrzehnten verbessern, auch in der Diagnostik sind wir technisch vorangeschritten. Das bedeutet, dass wir heute mehr denn je erkennen können. Das dies nicht unbedingt von Vorteil ist, zeigen die Autoren in zahlreichen Kapiteln. So lassen sich bei fast jedem einige Anomalien feststellen – ob diese aber gleich behandelt werden müssen, steht auf einem anderen Blatt.
Die Diagnosefalle
Wer tiefer in das Thema eintauchen möchte und sich auch damit beschäftigen möchte, wie sinnvoll Früherkennungstests und generelle medizinische Checks sind, dem sei das Buch “Die Diagnosefalle” empfohlen. Das Buch widmet sich vor allem chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes und Krebs. Dabei wird die westliche Medizin nicht verteufelt – stattdessen zeigen die Autoren anhand vieler fundierter und auch vom Laien nachvollziehbarer Beispiele, warum viele Diagnosen mit Vorsicht zu genießen sind. Ein Buch, das zum Nachdenken anregt.
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Odilia Wegener
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